10. Mai – Brent’s Cove und der erste Eisberg

Schon auf der Fahrt nach Brent’s Cove fragte ich mich immer wieder: Werden wir wirklich einen Eisberg sehen, oder bleibt dieses Abenteuer ein ferner Traum? Die Straße schlängelte sich holprig durch Wälder, das Wohnmobil vibrierte mit jedem Schlagloch und draußen peitschte der Wind an die Fenster. Mit jedem Kilometer wuchs meine Spannung – und dann lag er plötzlich da.

Da war er: ein mächtiger Eisberg, der im klaren, kühlen Licht majestätisch auf dem Wasser trieb. Ich konnte kaum glauben, dass wir tatsächlich hier waren – so weit weg von allem Vertrauten, und doch mitten in einem Moment, den ich wohl nie vergessen werde. Das Wasser um den Eisberg war beinahe lautlos, nur ab und zu hörte man das leise Knacken und Knistern, wenn sich Stücke vom uralten Eis lösten. Die Sonne ließ das Eis in allen erdenklichen Blautönen leuchten; von milchigem Weiß bis zu einem satten, fast schon leuchtenden Azur. Im Wind lag ein kühler Hauch, der einen Hauch von Salz und Süßigkeit zugleich trug, und manchmal glaubte ich, den Geruch von frisch geschnittenem Holz zu erahnen, den das Treibgut an den Strand brachte.

Wir stiegen aus, zogen die Jacken enger und standen einfach da, gebannt von diesem Anblick. Es war, als stünde die Zeit still. In Brent’s Cove war es beinahe unheimlich ruhig – nur das Kreischen einiger Möwen, das entfernte Tuckern eines Fischerbootes und das gelegentliche Tropfen von Schmelzwasser vom Eisberg durchbrachen die Stille.

Der kleine Laden im Ort war fast leer, nur ein windschiefes Werbeschild quietschte vor sich hin. Wir holten uns etwas zu trinken und lachten, als der Besitzer uns neugierig musterte – Eisberge locken eben selten Besuchende an diesen abgelegenen Ort. Noch lange später, als wir in Grand Falls-Windsor hinter einer Sporthalle für die Nacht parkten, spürte ich das Kribbeln dieses Tages. Ich lag wach und fragte mich, was Neufundland wohl noch alles für uns bereithalten würde – und ob sich je wieder ein solcher Moment der Stille und Schönheit wiederholen würde.

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Der letzte Tag unserer Reise, der 30. Mai 2024, war ein Geschenk des Himmels. Halifax präsentierte sich von seiner strahlendsten Seite, mit einem tiefblauen Himmel, der die perfekte Kulisse für unsere letzten Erkundungen bildete. Wir tauchten ein in das lebendige Treiben am Hafen, wo Straßenkünstler die Promenade belebten und der Duft des Meeres in der Luft lag.

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Nach Wochen auf den endlosen Straßen Neufundlands und Nova Scotias war der Tag gekommen, an dem unser treuer Begleiter, das Wohnmobil, in Rente gehen sollte. Wir steuerten es zum Vermieter in Enfield, fest entschlossen, es in makellosem Zustand zurückzugeben. Als der Vermieter uns mit deutlicher Verwunderung ansah und fragte, warum wir so gründlich geputzt hätten, fühlten wir uns kurz ertappt. „Wir haben das Reinigungspaket gebucht“, erklärten wir, doch sein Schmunzeln verriet, dass wir uns diese Mühe hätten sparen können.

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Die Nachtfahrt auf der Fähre hatte etwas Meditatives. Draußen war nur das tiefe Brummen der Motoren zu hören, über uns funkelte der Sternenhimmel, und hin und wieder blitzte das ferne Licht eines anderen Schiffs am Horizont auf. Mit jeder Seemeile schien Neufundland ein Stück weiter hinter uns zu liegen. In den frühen Morgenstunden liefen wir in North Sydney ein – noch verschlafen, aber voller Vorfreude auf die letzten Etappen unserer Reise.