10. Mai – Brent’s Cove und der erste Eisberg

Schon auf der Fahrt nach Brent’s Cove fragte ich mich immer wieder: Werden wir wirklich einen Eisberg sehen, oder bleibt dieses Abenteuer ein ferner Traum? Die Straße schlängelte sich holprig durch Wälder, das Wohnmobil vibrierte mit jedem Schlagloch und draußen peitschte der Wind an die Fenster. Mit jedem Kilometer wuchs meine Spannung – und dann lag er plötzlich da.

Da war er: ein mächtiger Eisberg, der im klaren, kühlen Licht majestätisch auf dem Wasser trieb. Ich konnte kaum glauben, dass wir tatsächlich hier waren – so weit weg von allem Vertrauten, und doch mitten in einem Moment, den ich wohl nie vergessen werde. Das Wasser um den Eisberg war beinahe lautlos, nur ab und zu hörte man das leise Knacken und Knistern, wenn sich Stücke vom uralten Eis lösten. Die Sonne ließ das Eis in allen erdenklichen Blautönen leuchten; von milchigem Weiß bis zu einem satten, fast schon leuchtenden Azur. Im Wind lag ein kühler Hauch, der einen Hauch von Salz und Süßigkeit zugleich trug, und manchmal glaubte ich, den Geruch von frisch geschnittenem Holz zu erahnen, den das Treibgut an den Strand brachte.

Wir stiegen aus, zogen die Jacken enger und standen einfach da, gebannt von diesem Anblick. Es war, als stünde die Zeit still. In Brent’s Cove war es beinahe unheimlich ruhig – nur das Kreischen einiger Möwen, das entfernte Tuckern eines Fischerbootes und das gelegentliche Tropfen von Schmelzwasser vom Eisberg durchbrachen die Stille.

Der kleine Laden im Ort war fast leer, nur ein windschiefes Werbeschild quietschte vor sich hin. Wir holten uns etwas zu trinken und lachten, als der Besitzer uns neugierig musterte – Eisberge locken eben selten Besuchende an diesen abgelegenen Ort. Noch lange später, als wir in Grand Falls-Windsor hinter einer Sporthalle für die Nacht parkten, spürte ich das Kribbeln dieses Tages. Ich lag wach und fragte mich, was Neufundland wohl noch alles für uns bereithalten würde – und ob sich je wieder ein solcher Moment der Stille und Schönheit wiederholen würde.

Der Regen hatte uns weiterhin fest im Griff. Gut, dass wir im Museum „The Rooms“ Unterschlupf fanden – drinnen war es wenigstens trocken und die Ausstellungen boten einen spannenden Einblick in Kultur und Geschichte, während draußen die Welt weiter vor sich hin tröpfelte.

Nach Tagen voller Regen genossen wir endlich trockenes Wetter, auch wenn der kräftige Wind auf Signal Hill uns fast die Mützen vom Kopf wehte. Signal Hill, berühmt für seine Rolle in der Geschichte der transatlantischen Funkübertragung, empfing uns mit spektakulären Ausblicken auf das tobende Meer und das bunte Häusermeer von St. John’s. Der Spaziergang entlang der Wanderwege fühlte sich beinahe wie eine kleine Expedition an – immer wieder blieben wir stehen, um die steilen Klippen und das Spiel der Wolken über dem Wasser zu bestaunen. „Hier oben kann man spüren, wie nah Wildnis und Zivilisation beieinanderliegen“, meinte Sascha, während ich ein Foto nach dem anderen schoss.

Nachdem wir Bonavista hinter uns gelassen hatten, begleitete uns das vertraute neblige und nasse Wetter auf dem Weg nach St. John’s. Der feuchte Nebel legte sich kühl auf unsere Haut und dämpfte jedes Geräusch, während das entfernte Rauschen des Windes in den Bäumen zu hören war. Die Luft roch nach nassem Asphalt und dem salzigen Hauch des nahen Ozeans. Unsere Hände wurden klamm, wenn wir draußen nach dem Weg suchten, und manchmal prickelte der Nebel auf den Wangen wie feine Nadelstiche.